Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer an der Uni Halle
von OK
Die Reihen und Gänge waren gefüllt im Hörsaal am Geistes- und Sozialwissenschaftlichem Zentrum (GSZ) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg anlässlich der Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer am 10. Juli 2019. Das Publikum – eine bunte Mischung aus Studierenden, wissenschaftlichen Kollegen und langjährigen Wegbegleitern – wartete gespannt auf ihren Vortrag, der sich der Frage widmete „Ist parlamentarische Repräsentation noch zeitgemäß?“.
Zuvor wurden die Anwesenden von Prof. Dr. Petra Dobner, Inhaberin des Lehrstuhls für Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft, begrüßt. Als Dekanin der Philosophischen Fakultät I ist sie zugleich Nachfolgerin von Suzanne S. Schüttemeyer, die dieses Amt von 2014 bis 2018 innehatte. Dobner sprach die verschiedenen Stationen Schüttemeyers an und würdigte sie auf sehr persönliche Weise als treue Begleiterin und leidenschaftliche Verteidigerin der parlamentarischen Demokratie.
Auf ihren Besuch des Atlantic College in Großbritannien folgte das Studium der Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. 1984 promovierte Schüttemeyer zum Thema „Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie“ an der Universität Lüneburg. Hier folgte auch ihre Habilitation mit der Arbeit „Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949-1997. Empirische Befunde und theoretische Folgerungen“, die 1999 mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags ausgezeichnet wurde. Nach Stationen unter anderem in Potsdam und Bologna, wo sie den Steven Muller Chair in German Studies an der Paul Nitze School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University bekleidete, folgte Schüttemeyer 2001 dem Ruf der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Den dortigen Lehrstuhl Regierungslehre und Policy-Forschung hatte sie bis Oktober 2018 inne.
Ihre Vorlesung begann Suzanne S. Schüttemeyer mit dem vermeintlichen Befund der Demokratiemüdigkeit, wie ihn Demoskopen der deutschen Bevölkerung im Allgemeinen und den ostdeutschen Bürgern im Speziellen oft zuschreiben. Analytisch sezierte sie die tieferliegende Ursache, die weniger in einer generellen Ablehnung der demokratischen Ordnung als vielmehr in einer Unzufriedenheit mit ihren konkreten Leistungen zu finden sei. Mit dem Diktum Ernst Fraenkels, dass es in pluralistischen Gesellschaftsformen eines kontroversen und eines nicht-kontroversen Sektors bedarf, erläuterte Schüttemeyer, weshalb ein gewisses Maß an Unzufriedenheit sich nicht grundsätzlich negativ auf die demokratische Verfasstheit auswirke, sondern im Gegenteil konstitutiv für diese sei.
Auf diesen grundsätzlichen Überlegungen aufbauend, behandelte sie entlang der titelgebenden Frage verschiedene politische Forderungen, die sie ihre gesamte akademische Wirkungszeit über begleitet haben und gegenwärtig stärker denn je artikuliert werden: die Vorstellung einer „besseren“ Repräsentation der Bevölkerung durch sozialstrukturell spiegelbildlich zusammengesetzte Parlamente sowie den Glauben an mehr Gemeinwohl durch die Ausweitung direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten. Schüttemeyer machte deutlich, dass direktdemokratische Instrumente nicht die Defizite beheben könnten, die wir heute in der parlamentarischen Repräsentation beklagen. Sie zeigte zudem die Grenzen deskriptiver Repräsentation auf, die beispielsweise an der Frage sichtbar werden, wen denn eine alleinerziehende, kirchengebundene Mutter, die freiberuflich tätig ist und sich um die Qualität der Umwelt für die nächste Generation ebenso sorgt wie um ihre eigene Rente, als ihre spiegelbildliche Gruppe betrachten solle.
Suzanne S. Schüttemeyer stellte heraus, dass Demokratie auf die Aktivität der Bürger angewiesen ist. Der Dreiklang aus „Kontakt zu Politikern suchen, Interessen artikulieren und sich um ein informiertes Urteil bemühen“ führe zu dem mündigen Bürger, den die Demokratie voraussetze. Auch die Medien könnten dabei nicht aus der Verantwortung entlassen werden, da sie nach wie vor eine maßgebliche Rolle bei der Vermittlung von Politikinhalten und der Darstellung von Entscheidungsprozessen spielen. Hinzu komme die fast allgegenwärtige Demoskopie, die schon vor fünfzig Jahren von Ernst Fraenkel davor gewarnt worden war, in die Umfrageteilnehmer „improvisierte Antworten hineinzufragen, wenn nicht gar, sie ihnen zu suggerieren“. So würden vermeintlich reflektierte Ansichten zu einer „öffentlichen Meinung“, die eigentlich gar nicht existiere, aber den politischen Akteuren falsche Schlüsse für ihre Entscheidungen nahelege.
Unübersehbar sei heute die Bereitschaft der Bürger, sich zu jedem erdenklichen Themenfeld zu äußern, unabhängig von dessen Komplexität oder dem für ein tiefergehendes Verständnis notwendigen Sachverstand. Die rasanten Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie würden dazu ebenfalls einen Beitrag leisten. Frühe Hoffnungen einer informierteren und aufgeklärteren Bevölkerung durch die vereinfachte Beschaffung von Informationen müssten heute als nicht erfüllt bezeichnet werden. Vielmehr, so Schüttemeyer, würden „populistische Propaganda und gezielte Fehlinformation“ im Internet dazu führen, dass „Fehl- und Vorurteile über die parlamentarische Demokratie“ weiter in der Bevölkerung gefestigt werden.
Für höchst bedenklich hält sie, dass direkte Demokratie oft als die „wahre Form“ von Demokratie, die repräsentative Demokratie nur als Ersatz angesehen werde. Diese Auffassung beruhe auf dem Fehlgedanken, dass eine allumfassende Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen dem Menschen seine natürliche Freiheit erhalte. Diesem Irrtum habe sich schon Peter Graf Kielmansegg entgegengestellt, als er schrieb: „Wer kollektiven Entscheidungen unterworfen ist, ist den Verfügungen Dritter unterworfen, auch wenn er selbst an diesen Entscheidungen mitwirkt.“ Folglich, so betonte Schüttemeyer, sei Repräsentation auch politiktheoretisch das „tragende Entscheidungsprinzip von Demokratie“.
In einem Fazit, das die „nüchterne Realitätssicht“ der vorherigen Ausführungen widerspiegelt, zugleich aber auch ein entschiedenes Plädoyer darstellt, resümierte sie:
„Für eine Gesellschaft, die diversifizierter und entgrenzter ist als jemals zuvor, ist parlamentarische Repräsentation besser geeignet als direktdemokratische Elemente oder deskriptive Ausdeutungen von Repräsentation. Mit ihren interessenaggregierenden Parteien und gewählten, verantwortlichen und rückgebundenen Abgeordneten garantiert sie besser als jede andere Form gemeinwohlorientierte, demokratisch legitimierte, politische Entscheidungen.“
Ihren Lehrstuhl an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, den sie gerade nicht als den sprichwörtlichen Elfenbeinturm ansah, bekleidete Suzanne S. Schüttemeyer 17 Jahre lang mit Engagement und Beharrlichkeit. In dieser langen Zeit hatte nicht nur die SPD acht Parteivorsitzende und der Hamburger SV 17 Trainer; auch in der Wissenschaft ist die personelle Kontinuität zusehends geringer geworden. Die gewollte Andersartigkeit der Uni Halle im Allgemeinen und der dortigen Politikwissenschaft im Besonderen haben Schüttemeyer immer sehr zugesagt. Nicht jedem modischen Trend sei man hinterhergelaufen, sondern habe stets einen eigenen Weg gesucht. Mit den Worten „Ich habe gern in und für die Universität Halle gewirkt, habe meine Entscheidung für sie nie bereut und bin deswegen nie weggegangen“, schloss Schüttemeyer ihre Abschiedsvorlesung, nicht ohne zu betonen, dass sie immer gerne an die Martin-Luther-Universität zurückkehre, was Petra Dobner sofort scherzhaft aufgriff, um eine Einladung für Lehrveranstaltungen im kommenden Semester auszusprechen.
Im Anschluss an die Vorlesung klang der Abend bei strahlendem Wetter mit einem Empfang auf dem Steintor-Campus aus. Studierende, Mitarbeiter, Professoren und Freunde unterhielten sich bei Speisen und Getränken angeregt, überreichten Präsente und erinnerten an gemeinsame Zeiten. Suzanne S. Schüttemeyer hat sich in den vergangenen Jahren um die Martin-Luther-Universität und vor allem die Parlamentarismusforschung in der Bundesrepublik verdient gemacht. Glücklicherweise wird sie der Disziplin in unterschiedlichen Tätigkeiten, u.a. als Direktorin des IParl und Chefredakteurin der Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), erhalten bleiben.